"Lieber Herr Doktor,
da Neujahrskarten bekanntlich 'kategorisch' verboten sind, sollen Sie sogar einen Brief zum neuen Jahr haben! Aber nicht nur deshalb, sondern auch weil ich Ihnen mitteilen will, daß ich neulich die beiden kleinen Kalender als Warenprobe zur Post gebracht habe. Hoffentlich sind sie richtig eingetroffen und entsprechen den geäußerten Wünschen. Ferner wird es Ihnen gewiß Spaß machen zu hören, was mir heute der Städtische Musikbeauftragte von Lindau im Bodensee schreibt, ein Musikstudienrat Grad. Er hat meinen kleinen Mozartklavieraufsatz [Steglich 1941] in dem Wiener Mozart-Festheft gelesen und vermißt darin schmerzlich etwas über Mozarts Reiseklavier, Dann fährt er fort: 'Darf ich noch anfügen, daß ich Herrn Dr, Neupert-Nürnberg gebeten habe, statt seiner Steinkopie einen Walterflügel als 'Mozartklavier' nachzuahmen. Vielleicht kann Ihre größere Autorität gelegentlich Herrn Neupert ganz davon überzeugen!' Ist das nicht niedlich?! Wird da der Herr N. aber eine Freud gehabt haben!!! Nun, ich schreibe dem Lindauer, daß die Kopie schon fertig ist und sogar in Nürnberg steht, aber nicht bei N.!
Da wir einmal bei Mozart und seinem Klavier sind: jene Äußerung Edwin Fischers von der Harfe in der d-moll-Fantasie ist, wie mir neulich bei eingehender Nachprüfung immer klarer wurde, geradezu wunderbar bezeichnend für die auf Notbehelfe angewiesen Zeit, die nicht mehr unmittelbar zu spüren vermag, was bei Mozart eigentlich los ist. Jene Mozart-Stellen, wo mitten in einem sehr ernsten Satz, nach plötz lichem Abbruch der Melodie, ein Presto-Lauf heruntersaust, dem sich aus der Tiefe herauf ein Arpeggio anschließt, wo es sich also ganz offenbar um eine musikalische Katastrophe handelt. kann man etwa heute mit einem Stuka-Angriff und - das Arpeggio nach oben - mit einer Bombenexplosion vergleichen. Eine Harfe darin hören, ein weichliches, mulmiges Plumplum, das durch Hebung der Dämpfung vollends verwischt und verdumpft wird, das heißt die Natur dieser Stelle ins Gegenteil verkehren. Wer aber von dieser musikalischen Natur nichts spürt, der muß sich dann freilich an irgendwelche äußeren Ähnlichkeiten, hier die mit einem Harfenarpeggio, klammern, um überhaupt einen Sinn in der Musik zu finden. Vermutlich hat Fischer schon vorher das d-moll-Thema mehr als eine Niedlichkeit denn als etwas Tiefernstes aufgefaßt. Der Fall interessiert mich deshalb so, weil man sehr selten nur solche Mißverständnisse von den Betreffenden selbst in Worte gefaßt findet, die so aufschlußreich sind, geradezu ein Schulbeispiel. Daß Fischer in seiner modernen Art ein außerordentlicher Kerl ist, wird davon nicht berührt. In neueren Sachen, aber auch Beethoven, der ihm mehr entspricht, mag ich ihn sehr gern.
Wir haben jetzt eine Menge Schnee hier. So sieht es äußerlich wenigstens ganz weihnachtlich aus. Bei Ihnen wird wohl noch ein bissel mehr liegen. Laufen Sie auch in der guten frischen Luft orden dentlich herum? Das ist gesund! In der Bude hocken können Sie in Nürnberg auch.
Und nun kommen Sie samt Fräulein Luise gut ins neue Jahr hinüber! Möge auch sonst dieses neue Jahr allerlei Gutes und möglichst nichts oder doch nur ganz wenig weniger Gutes bringen!
Mit herzlichen Grüßen // Ihr // [handschriftl.] Steglich."
[Maschinenschriftl. links oben:] "Beantw. 30.12. per Karte gedankt."