NL Rück, I, C-0455

"Lieber Helmut!

Dich interessiert die Geschichte des 'Erard-Flügels', welcher aus dem Hause meiner Eltern, des Baudirektors C.F. von Leins und seiner Frau Maria, geb. Indée [Judée], adoptierte Schlesinger im Jahre 1882 in den Besitz unserer Freundin Klinckerfuss überging.

Ich will Dir gerne alles erzählen, was ich weiss und mir aus Mama's Berichten in Erinnerung geblieben ist. Als Mama noch ein Kind war, stand das Musikleben in Paris auf einem Höhepunkt. Im Hause ihrer Eltern, des Adoptivvaters Musikverlegers M. Schlesinger und seiner Frau Elisabeth, geb. Fou[co]ult, verwitwete Indée [Judée], in zweiter Ehe verheiratete Schlesinger, versammelte sich jeden Mittwoch die Musik und Schriftsteller-Welt von Paris, da wurde eifrig musiziert auf dem 'Erard'. Die namen der Künstler, welche die Tasten meisterten sind berühmte und viele. Alary, Berlios, Cherubini, Hiller, Liszt, Mendelssohn, Meyerbeer, Diardat, Garcia, Nicolai, Paganini, Piseis, Ries, Rossini, Rubinstein, Spontini, Verio, Wagner (wohnte ein Jahr lang im Hause) Rue Drouot Nr. 2.

Chopin, sehr zart liebte es nicht, bei dem langen Diner zu sitzen, schlich sich bald in den Musik Salon, setzte sich an den Flügel, nahm meine Mutter, das fünfjährige Kind, auf seinen Schoss, lehrte sie Klavier spielen, komponierte reizende kleine Stücke für sie, welche ihre kleinen Fingerchen greifen konnten!

Zuhörer bei den anderen Darbietungen waren oft George [S]and, Alexandre Dumas, Flaubert u.a.m.

Im Jahre 1855 verliessen Schlesingers Paris und übersiedelten nach Baden-Baden, nahmen auch den Erard-Flügel mit.

Baden-Baden war damals auch ein Sammelpunkt von Berühmtheiten; im Hause Schlossberg Nr. 1 kehrten oft ansässige oder durchreisende Künstler ein, Frau Viardat [Viardot] Garcia hatte ihre Musikschule in B.B. sie und ihre Schüler sangen oft bei den Grosseltern, Alexandre Dumas, Turgenieff, Liszt, Rubinstein, George [S]and etc. verkehrten im Hause.

In Stuttgart, wohin meine Mutter sich 1856 verheiratete und den Flügel mitbekam, wurde der Tradition folgend auch viel musiziert, Frau Johanne Klinckerfuss, Prof. Alois Pruckner, Prof. Lehert, Kapellmeister Klengel, Geyfritz, Steinhart und viele mehr spielten auf dem Erard, bis er 1882 in den Besitz Klinckerfuss überging als ein interessantes Stück ihrer schönen Instrumentensammlung.

So, lieber Helmut, das ist so ziemlich alles, was ich Dir kund tun kann, wer bei Klinckerfuss noch diese Tasten hat ertönen lassen, gewiss viele bedeutende Pianisten, das wird Dir Walther K. mitteilen können.

Mit bestem Gruss // Deine Tante Helen."