"Lieber Herr Doktor,
es hat mich sehr gefreut zu hören, daß Sie den Josten-Katalog [Josten 1928] nun endlich bekommen haben, Dr. Seeger hat mich nämlich schier zur Verzweiflung gebracht mit seiner Schlamperei. Er hat sein Exemplar bis heute nicht gefunden. Was mir die vielen Besuche bei ihm Zeit gekostet haben, will ich gar nicht sagen! Ärgern tut einen so etwas natürlich, wenn man nichts erreicht!
Der einzige Lichtblick bei den Verhandlungen mit ihm war eine nette Geschichte, die er mir erzählte und die ich Ihnen mitteilen will.
Zu den Lesern seiner Bibliothek gehört u.a. ein baltischer Baron, Herr v. Manteuffel. Dieser Herr war noch im zaristischen Russland Leutnant der Infanterie. Da aber die Balten unter sich nur deutsch gesprochen haben, war er im Russischen nicht gerade stark. Bei einer Truppenbesichtigung sollte er nun mit seiner Kompanie vor dem inspizierenden General exerzieren. Er setzt seine Leute in Bewegung, läßt sie Schwenkungen machen und die Soldaten marschieren und marschieren weiter immer weg von dem General, weil dem Herrn v. Manteuffel in der Aufregung das russische Kommandowort 'Halt!' völlig aus dem Gedächtnis entschwunden ist. Endlich kommt der Adjutant im Galopp angeritten und schreit: 'Der Herr General ist ganz außer sich! Wollen Sie Ihre Leute nach
Sibirien marschieren lassen? Warum kommandieren Sie nicht 'cmoû?' [handschriftl.].
Und da wußte endlich Herr v. Manteuffel, wie das rettende Kommandowort heißt. Mit seiner militärischen Karriere war es aber aus und vorbei. Der General meinte nämlich, solche Offiziere könne er nicht brauchen: im Kriegsfall würde dem Herrn v. Manteuffel vielleicht entfallen, wie auf russisch "Vorwärts!" heißt.
Nun zu Ihrem Angebot, eine Verbindung mit dem Herrn Casmann herzustellen. Ich muß Ihnen offen bekennen, daß ich Bekanntschaften mit Amerikanern nicht gesucht habe und nicht suchen werde. Sie sind oft sehr nette Leute und tragen natürlich keine Schuld an der Politik ihrer Regierung uns gegenüber. Wenn ich aber daran denke, daß wir drei Jahre nach dem Kriegsende unsere kümmerliche Nahrung nicht einmal bezahlen können und ein Drittel der Staatseinnahmen für Besatzungskosten aufwenden müssen, dann vergeht mir die Lust zu amerikanischen Bekanntschaften. [Handschriftl. Anm. von U. Rück am Seitenrand: 'hat recht!'] Jedenfalls will ich nicht zu den Leuten gehören, die wegen Zigaretten oder sonstigen Geschenken sich an die Besatzungsangehörigen heranmachen. Lieber will ich hungern und Rippentabak rauchen.
Das Clavichord spiele ich jetzt kaum. Dazu habe ich einfach keine Kraft, weil der viele Unterricht und die Arbeit an der Bach-Ausgabe mich zu sehr anstrengen. Ich hoffe aber, daß mir im nächsten Jahr mehr Zeit übrig bleibt.
Wie geht es Ihnen? Ist Ihre Gesundheit soweit in Ordnung? Wenn ich nicht irre, wollten Sie im Mai mit dem Bau fertig sein.
Klappt das?
Herzliche Grüße // Ihres alten // [handschriftl.] AKreutz".