NL Rück, I, C-0482d

"Lieber Herr Doktor,

mein langes Schweigen erklärt sich dadurch, daß ich in den letzten Wochen zweimal umziehen mußte. Von Teschen kamen wir nach Leobschütz und dann hierher nach Pommern.

Nun sitzen wir seit einigen Tagen in einer ländlichen Einöde, weitab von jeglicher Zivilisation. Das nächste Städtchen (Ratzebuhr) liegt in einer Entfernung von 10 km; es hat immerhin 2.500 Einwohner und bietet jeden Mittwoch sogar eine Vorstellung von einem Wanderkino. Das ist unsere einzige Berührung mit der Kulturwelt. Sonst gibt es hier nichts als Felder, Wiesen und Wälder. Wenn man den hiesigen Aufenthalt als eine Sommerfrische betrachtet, so ist er für einige Zeit ganz willkommen, doch im Winter kann man hier glatt irrsinnig werden vor Langeweile.

Ich hoffe stark, daß wir hier nicht länger als einige Monate bleiben werden.

Das Schlimmste ist, daß die Zugverbindungen nach Schneidemühl so miserabel sind und daß wir deswegen hier kaum in Kurzurlaub fahren können. Für die Süddeutschen ist es besonders schlimm.

Wie geht es Ihnen, lieber Herr Doktor? Was macht Ihre Gesundheit? - Von geschäf[tli]chen Dingen braucht man ja heutzutage gar nicht reden. Gab es in der letzten Zeit neue Zerstörungen in Nürnberg? Wie geht es Prof. Steglich?

Hier lebe ich wie hinter dem Mond und bin auf jede Nachricht begierig, die mich mit der Außenwelt verbindet. Schreiben Sie mir bitte ausführlich, wie es Ihnen geht: ich möchte den Kontakt mit den wenigen Menschen, die einem näher stehen, nicht verlieren, denn was hat man noch in der heutigen Zeit außer seine Familie und einigen Freunden?

Leben Sie wohl, lieber Herr Doktor, mit allen guten Wünschen für Ihr Wohlergehen grüße ich Sie herzlich.

In alter Verbundenheit // Ihr // AKreutz".

Absender/Urheber Person
Empfänger Person
Datum
1944,05,19
Schreibort
Barkenbrügge
erwähnte Personen