"Lieber Herr Doktor,
die Zeitungen berichten von einem neuen Angriff auf Nürnberg, der - wie es scheint - ziemlich heftig war. Ich bin um Sie in Sorge, lieber Herr Doktor, und bitte Sie, mir mitzuteilen, ob bei Ihnen alles in Ordnung ist.
Der Krieg weitet sich immer mehr aus und sein Ende [ist] nicht abzusehen. Wieviel Menschenleben wird er noch kosten und wieviel Kulturdenkmäler, die man nie ersetzen kann, werden noch vernichtet?
Ja, das neue Europa wird mit großen Wehen geboren und - was das Schlimmste ist - man weiß gar nicht, ob es dem Papa oder der Mama ähnlich sein wird.
Für mich wird es immer klarer, daß jeder zufrieden sein muß, der sein nacktes Leben retten wird, weitere Ansprüche darf man nicht stellen. Die guten ruhigen Zeiten sind endgültig vorbei. Man könnte ganz verzweifeln, wenn man nicht wüßte, daß das furchtbare Zeitgeschehen doch einen geheimen, unserem Menschenverstand unfassbaren Sinn hat.
Vielleicht wird dem heutigen Menschen wenigstens zum Bewußtsein kommen, wie klein und schwach er ist. Nur im Zerstören hat er es weit gebracht: Millionen von Leben kann er vernichten, doch gelingt es ihm nicht, auch nur eine lebendige Zelle zu erschaffen.
Was mich anbelangt, so habe ich einen so großen Ekel von unserem Zeitalter, daß ich mich noch mehr als früher in die Vergangenheit flüchte. Einen T[ros]t bringen mir die Werke der Dichter und Philosophen aus Deutschlands großer Zeit, die ich mit wahrem Heißhunger lese. Im wahren Leben habe ich großen Halt in meiner lieben Frau und in einigen Freunden. Mehr als jeder Besitz und alle äußeren Erfolge ist das Bewußtsein wert, mit einigen Menschen inniger verbunden zu sein als es in der heutigen oberflächlichen Zeit gewöhnlich der Fall ist.
Wie geht es Ihnen gesundheitlich und sonst?
Schreiben Sie bald // In alter Treue // Ihr // AKreutz".
Gibt es was Neues in Clavichorden?