NL Rück, I, C-0482d

"Lieber Herr Doktor,

seit 3 Tagen sitze ich nun in der Dolmetscher-Kompanie in Stettin und blase Trübsal.

Zu einem neuen Einsatz komme ich sicher nicht so bald, weil hier allein für die russische Sprache 22 Dolmetscher vorhanden sind, die ebenfalls stellungslos sind.

Der ganze Betrieb gefällt mir gar nicht. Der einzige Vorteil, den ich genieße, ist der, daß man mich in Ruhe läßt. Von 15- bis 18h habe ich täglich Sprachunterricht, bei dem ich kaum etwas profitieren kann, und der mir wirklich nicht viel Gehirnsubstanz kostet, - in der übrigen Zeit kann ich tun und lassen was ich will.

Dafür wird hier für das leibliche Wohl sehr schlecht gesorgt. Die Zimmer in dem sogenannten Offiziershaus sind alles andere als gemütlich. Bei mir, wie auch sonst, fällt der Deckenverputz dauernd herunter, und man muß froh sein, wenn einem kein zu großes Stück Gips auf den Kopf niederstürzt.

Geheizt wird gar nicht, und so sitze ich in meiner kalten Bude und friere. Dazu ist mir der Tabak ausgegangen, so daß ich mir nicht einmal die Nase wärmen kann.

Das Mittagessen im Kasino ist gut, dafür wird der Kaffee morgens nicht immer, abends aber nie gebracht. Auch das Aufräumen des Zimmers wird nicht besorgt.

Irgendwas zu fordern, wäre nicht ratsam, denn die Sonderführer gelten hier gar nicht. Man muß überhaupt froh sein, daß man nicht ausgekleidet wurde, wie es den meisten passiert ist, die nun als Soldaten Dienst tun müssen, bis für sie eine Dolmetscher-Stelle gefunden wird.

Die erzwungene Untätigkeit und das ewige Warten zermürben einen ganz und gar.

Eigentlich sollte ich zur Dolmetscher-Kompanie nach Stuttgart kommen, aber das Generalkommando hat verfügt, daß ich hier bleiben soll.

Zu Hause wäre dieses Warten natürlich viel erträglicher als hier in einer völlig fremden Stadt, wo ich ganz gottverlassen bin.

Wie geht es Ihnen? Sind Sie gesundheitlich einigermaßen auf der Höhe?

Mich beunruhigt immer Ihre Mitteilung, daß Sie Untergewicht haben. Wie Sie jetzt aussehen, kann ich mir gar nicht vorstellen.

Je toller der Krieg wütet, umsomehr hängt man an seinen Angehörigen und Freunden, die einem noch verblieben sind. Was hat man denn sonst vom Leben in den heutigen Zeiten?

Alle Werte gehen verloren, was bleibt einem noch übrig?

Daß unsere Wohnung bis jetzt noch nicht zerstört wurde, betrachte ich als ein Wunder; doch wie lange meine arme Frau, die es wirklich nicht leicht hat, ein Dach über dem Kopf haben wird, weiß Gott alein.

Unlängst habe ich erfahren, daß das Schiedmayer-Haus in der Neckarstrasse völlig zerstört wurde. Schade um das schöne alte Gebäude!

Auf das versprochene Photo des ältesten Clavichords, das in Leipzig verbrannt ist, warte ich mit Sehnsucht. Können Sie mir vorerst wenigstens die Signatur dieses Instruments mitteilen?

Sie sehen, daß meine Clavichordleidenschaft sich trotz aller Kriegswirren nicht gemindert hat.

Wie sehr ich mich gerade in den heutigen Zeiten nach guter Musik und nach wissenschaftlicher Betätigung sehne, kann ich Ihnen gar nicht sagen. Doch alles das bleibt mir sonst verschollen.

Leben Sie wohl. Möge Sie Gott behüten und erhalten.

In treuem Gedenken grüße ich Sie herzlichst.

Ihr // AKreutz".

Absender/Urheber Person
Empfänger Person
Datum
1944,10,20
Erwähnte Objekte
Klavichord
Tasteninstrumente
erwähnt als
Foto(s)
erwähnte Institutionen
erwähnte Ereignisse
Typ des Ereignisses
Kriegsfolgen
Stuttgart