NL Rück, I, C-0482d

"Lieber Herr Doktor,

haben Sie vielen herzlichen Dank für Ihren lieben Brief. Mein langes Schweigen unterbreche ich, um Ihnen zunächst die traurige Nachricht zu geben, daß mein älterer Sohn Heiner am 4.8. an der Ostfront gefallen ist. Gott gebe ihm ewige Ruhe!

Dann muß ich Ihnen mitteilen, daß unser liebes altes Stuttgart nicht mehr existiert. Nach drei großen Angriffen ist die Stadt fast völlig zerstört; erhalten sind nur Teile von Gaisburg und Ostheim. Der ganze Stadtkern mit allen historischen Gebäuden liegt in Trümmern.

Meine Frau ist wie durch ein Wunder am Leben geblieben. Während des heftigsten Angriffs wurde die Luftschutz-Rettungsstelle, wo sie Verwundete betreute, von drei Bomben getroffen. Eine von ihnen, ein Blindgänger, durchschlug das ganze Gebäude und drang zwei Meter tief in den Kellerboden ein, so daß meine Frau vom Schutt bedeckt wurde. Zwei weitere Bomben waren mit Zeitzündern versehen, dadurch konnten alle noch rechtzeitig wegkommen. Unsere Wohnung wurde nur leicht beschädigt.

Was wird uns der Krieg noch alles bringen? Man kommt in Versuchung, die Toten zu beneiden, den das Schrecklichste erspart bleibt.

Über mich selbst habe ich nur wenig zu berichten. Bis jetzt bin ich noch am alten Platz, doch voraussichtlich nicht lange mehr, da der Ausbau des Lagers nahezu vollendet ist. Wohin mich das Schicksal dann verschlägt, ist völlig ungewiß.

Wegen der Verschickung des Spinetts kann ich Ihnen aus diesem Grunde nichts Bestimmtes sagen. Einen Wehrmachts-Frachtbrief werde ich kaum beschaffen können, und somit ist es möglich, daß aus der ganzen Sache nichts mehr wird. Außerdem weiß ich noch nicht, ob mir in einer neuen Stelle überhaupt noch Zeit zum Spielen bleibt: nach neueren Verfügungen soll auch Sonntags gearbeitet werden.

Man muß also abwarten, bis ich versetzt werde und über meine neuen Verhältnisse Näheres weiß.

Auf das Photo des frühesten Clavichords bin ich sehr gespannt und erwarte es mit Ungeduld.

Bleiben Sie gesund, lieber Herr Doktor. Möge Sie Gott behüten in der heutigen schweren Zeit.

Ich gedenke Ihrer mit guten, freundschaftlichen Gefühlen und bin in alter Anhänglichkeit // Ihr // AKreutz".

Absender/Urheber Person
Empfänger Person
Datum
1944,08,22
Erwähnte Objekte
Tasteninstrumente
erwähnt als
Transport
erwähnte Ereignisse
Typ des Ereignisses
Kriegsfolgen
Stuttgart