NL Rück, I, C-0444f

Kinsky schreibt aus Berlin Mahlsdorf, "Briesener Weg 52".

 

"Sehr geehrter Herr Dr. Rück,

Es freute mich, nach so langer Unterbrechung wieder Nachricht von Ihnen zu erhalten, wenn es mir auch recht leid tut, daß Ihr Gesundheitszustand viel zu wünschen übrig läßt und Sie auch sonst durch den furchtbaren Krieg und seine Folge-Erscheinungen so viel eingebüßt haben. Auch ich bin in jeder Hinsicht ein Opfer dieser Verhältnisse geworden und stehe jetzt im vollen Sinne des Wortes 'vis-à-vis de rien'. Der schwerste Schicksalsschlag blieb mir noch bis zuletzt aufgespart: Ende Mai v. J. ist meine gute Frau, die während der Schreckenszeit des dutzendjährigen 'Dritten Reichs' als wahre Kameradin tapfer und treu bei mir ausgeharrt hatte, nach monatelangem Krankenlager für immer von mir gegangen. Außer an besorgniserregenden Kreislaufstörungen litt sie an einer schmerzhaften Hüftgicht, bis dann eine plötzlich eintretende Lungenentzündung, die ihr ohnehin stark geschwächtes Herz nicht mehr standzuhalten vermochte, ihr Ende herbeiführte. Hinzukam das ständig quälende Gefühl, entwurzelt und heimatlos zu sein und alles verloren zu haben, was ihr früher das Leben lebenswert gemacht hatte ...

Und sonst? Durch die brutalen Maßnahmen der Gestapo gegen alle Mischehen mußte ich im Februar 44 unsere Wohnung in Köln-Dellbrück innerhalt weniger Tage räumen und war dadurch genötigt, meine in zwei Zimmern untergebrachte sehr umfangreiche Bücherei und Musiksammlung, um sie der drohenden Gefahr der Beschlagnahme und Enteignung zu entziehen, von heute auf morgen 'à tout prix' zu verkaufen (oder richtiger: zu verschleudern). Bei der Ueberstürzung, mit der dies geschehen mußte, ging leider auch mein in mehr als 30 Jahren mühsam erarbeiteter gesammter 'Handapparat' mit mehreren tausend Karteikarten, Abschriften aus entlegenen Quellenwerken und sonstigen unersetzbaren Auszügen, Notizen und Belegen und damit die unentbehrliche Grundlage zur Fortsetzung meiner wissenschaftlichen Arbeit verloren. – All unser sonstiges Hab und Gut an Möbeln, Teppichen, Kristall und Silber, Kleidung und Wäsche usw., das ich bei meinem Abtransport nach dem Thüringer Wald zur Arbeitsleistung im Straßenbau in Diensten der OT in Köln zurücklassen mußte und notdürftig unterstellen konnte, ist dann Ende Oktober 44 einem der vielen schweren Fliegerangriffe auf Köln zum Opfer gefallen und das Wenige, was der Vernichtung entging, ist später gestohlen worden oder sonstwie abhanden gekommen. – Nach einigen Monaten gelang es uns dann, hier in Mahlsdorf, einem hübschen Siedlungsort am Ostrande Groß–Berlins, eine Zufluchtsstätte zu finden. Wir erlebten hier die in Berlin besonders kritischen Kriegsmonate mit ihren unaufhörlichen Luftangriffen, denen erst gegen Ende April 45 der Einmarsch der siegreichen Roten Armee ein Ziel setzte.

In B.-Mahlsdorf bin ich gant gut untergebracht und (abgesehen von meiner seelischen Vereinsamung durch den Tod meiner armen Frau) geht es mir soweit auch ganz erträglich, zumal ich dank häufiger Liebesgabensendungen aus dem Ausland, besonders aus Amerika, auch mancher Nahrungssorgen enthoben bin. Meine Versuche jedoch, so wie früher weiterzuarbeiten, sind aus den erwähnten Gründen, also durch den Verlust meiner Fachbibliothek und des ganzen Karteimaterials, und an den allgemeinen unerquickllichen Zeitverhältnissen – z.B. der Zonenabsperrung, der Unmöglichkeit, Bücher und Zeitschriften aus dem Ausland zu erhalten usw. – bisher gescheitert; Schwierigkeiten, die auch mit Hilfe der Musikabteilung der hiesigen Staatsbibliothek, von der immer noch sehr erhebliche Teile nach außerhalb verlagert und daher vielleicht noch auf Jahre unzugänglich sind, sich nicht beheben lassen. Bei dieser Sachlage sind die Aussichten, daß ich mich je wieder mit Instrumentenkunde befassen werde, leider sehr gering – u.a. ist mein sämtliches Material über ein paar tausend alte Klavierbauer, das als Seitenstück zu Lütgendorffs Werk geplant war, restlos vernichtet, u. ebenso steht es mit den ausführlichen Vorarbeiten zu einem Buch über 'Reliquien-Instrumente', wovon mein letzter veröffentlichter Aufsatz über die Mozart-Instrumente lediglich eine Kostprobe bot.

Von meinen eigenen Büchern, Katalogen und etwa 150 gedruckten Aufsätzen besitze ich selbst mit einziger Ausnahme eines Aufsatzes über alte und neue Musikinstrumentensammlungen ein Jahrbuch der Musikbibl. Peters f. 1920 – auch nicht ein Blatt mehr, weshalb es mir leider beim besten Willen unmöglich ist, Ihren Wünschen in dieser Beziehung irgendwie zu entsprechen. – Musikbücher aller Art sind hier in Berlin überhaupt sehr gesucht, und die Nachfrage überwiegt – wie ich aus Erfahrung bestätigen kann – das Angebot bei weitem. Empfehlen würde ich Ihnen, Ihre Wünsche bezügl. Instrumentenliteratur und Kataloge den folgenden 2 Firmen mitzuteilen u. vorkommendenfalls um Offerten zu ersuchen:

Hans Dünnebeil // Musikalienhdlg.; Berlin W 35, Potsdamer Str. 98,

Hugo Streisand, // Antiquariat; Berlin W 30, Eislebener Str. 4

Allerdings möchte ich Sie gleich schonend darauf vorbereiten, daß für wissenschaftl. Bücher alles in Berlin nahezu 'Inflationspreise' verlangt werden!

Ueber das Schicksal der einzelnen Instrumentensammlungen bin ich zu meinem Bedauern nicht unterrichtet. Vielleicht kann Ihnen Herr Dr. Josef Zimmermann in Düren (Rhld.), Tivolistr. 101, darüber Auskunft geben. (Dessen Blasinstrumentensammlung ist größtenteils gerettet, doch hat er aller Bücher und Kataloge verloren.)

Daß Prof. Curt Sachs, der nach USA emigriert war, in New York kürzlich einem Verkehrsunfall erlegen ist, werden Sie vielleicht bereits wissen. (Ich las die Meldung in der Münchener 'Neuen Zeitung'.)

Jetzt muß ich diesen Brief beenden, da ich durch die hier schon seit etwa 14 Tagen herrschende Tropenglut (30° im Schatten) ganz erschlafft bin und mir das Schreiben ausführlicher Briefe sowieso schwer fällt. (Leider steht mir keine Schreibmaschine zur Verfügung!)

Für heute mit besten Grüßen und allen guten Zukunftswünschen

Ihr getreu ergebener // Georg Kinsky".

Absender/Urheber Person
Empfänger Person
Datum
1947,06,29
Schreibort
Berlin
erwähnte Institutionen
erwähnt im Zusammenhang
Suchauftrag Literatur
erwähnt im Zusammenhang
Suchauftrag Literatur
erwähnte Ereignisse
Typ des Ereignisses
Kriegsfolgen
Berlin
1947,06
Typ des Ereignisses
Kriegshandlung
Köln
1944
Literaturreferenz
Kinsky 1940